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Orofaziales Schmerz-
Dysfunktionssyndrom
und atypischer Gesichtsschmerz
H.-J. Demmel, M. Daubländer
Inhalt Einleitung
Ätiologische und pathogenetische Faktoren Einleitung
wendeten Begriffe in der Literatur, so ist daran die Problema-tik der Definition chronischer Kiefer- und Gesichtsschmerzen Die Begriffe „orofaziales Schmerz-Dysfunktionssyndrom“ zu erkennen (Tab. 6.6-1). Dabei handelt es sich häufig um Be- und „atypischer Gesichtsschmerz“ werden häufig synonym griffe, die den Zeitgeist der jeweils aktuellen pathogenetischen verwendet, obwohl es sich um zwei ätiologisch völlig unter- Konzepte widerspiegeln. Teilweise werden diese Diagnosen schiedliche Krankheitsbilder handelt. Betrachtet man darüber aber auch als Ausweg aus dem Dilemma eines nicht gut er- hinaus die weiteren zahllosen, häufig gleichbedeutend ver- klärbaren Schmerzes gestellt (Mumford 1989). Tab. 6.6-1: Häufig gebrauchte Synonyme für das orofaziale Schmerz-Dysfunktionssyndrom
Autor(en)
6.6 Orofaziales Schmerz-Dysfunktionssyndrom und atypischer Gesichtsschmerz
Tab. 6.6-1: (Fortsetzung)
Autor(en)
Temporo-mandibular joint dysfunction (TMJ) Functional disorders of the masticatory system Definition
Schmerzhaftigkeit von Kaumuskulatur und/oder Kiefergelen-ken berücksichtigt (s. Kap. 4.10).
Da die Bestrebungen hinsichtlich einer national und interna- Funktionseinschränkungen können bereits initial bestehen tional einheitlichen Nomenklatur sowie Klassifikation bislang oder kausal beteiligt sein, stellen aber vor allem bei zuneh- nicht den erwünschten Erfolg zeigten, existieren derzeit nicht mender Chronifizierung eine zusätzliche therapeutische Her- ausreichend viele standardisierte Kriterien, die einem inter- ausforderung dar, da unter Umständen iatrogene Schäden die disziplinären Konsens gerecht werden. Es können daher in Therapie erschweren. Dabei besteht keineswegs eine Korre- diesem Zusammenhang auch nur Teilaspekte dargestellt wer- lation zwischen dem Ausmaß der Beschwerden und der dia- gnostizierbaren Funktionseinbuße, sondern häufig eineDiskrepanz. Berücksichtigt werden müssen auch die häufigvorhandenen weiteren körperlichen Beschwerden dieser Pati- Orofaziales Schmerz-Dysfunktionssyndrom
Die schmerzhaften myofazialen Beschwerden im Kiefer- undGesichtsbereich werden im Rahmen der Klassifikation chro- Atypischer Gesichtsschmerz
nischer Schmerzen der Internationalen Gesellschaft zum Stu-dium des Schmerzes (IASP) unter dem Begriff „Temporo- Zwischen der typischen Trigeminusneuralgie und den myofa- mandibular Pain and Dysfunction Syndrome“ aufgeführt. Die zialen Beschwerden wurde eine Diagnose etabliert, die sich Internationale Kopfschmerzgesellschaft wählt hingegen die bereits durch den Begriff „atypisch“ von diesen beiden ab- Diagnosen „Oromandibular Dysfunction“ bzw. „Temporo- grenzen soll. Doch die Definition ist wie auch das klinische mandibular Joint Disease“. Beide Begriffe stellen den skelet- Bild nicht einheitlich. Teilweise wird sie als Ausschlussdi- talen Anteil und die Funktionsstörung in den Vordergrund, agnose verwendet oder stellt eine Restkategorie dar für alle was dem Krankheitsbild nicht gerecht wird, da das Leitsymp- nicht eindeutig zuzuordnenden chronischen Gesichts- tom in der Regel der Schmerz ist. Gleiches gilt für die Be- schmerzen. Ferner kann sie als Sonderform der posttrauma- zeichnungen „Temporomandibular Disorders“, „Myoarthro- tischen oder postläsionellen Neuropathie interpretiert wer- pathie des Kausystems“ und die derzeit zahnmedizinischer- den (Maier 1997). Diagnostische Kriterien sind (Sprotte u.
seits präferierte „kraniomandibuläre Dysfunktion“ (CMD).
Zumindest im Rahmen der Forschung existieren zur besseren Vergleichbarkeit klinischer Studien diagnostische Kriterien • Sensibilisierung aller Strukturen der betreffenden Ge- für „Temporomandibular Disorders“ (Dworkin u. LeResche 1992). Diese berücksichtigen die somatischen Befunde wie • Unabhängigkeit der Lokalisation von den nervalen Inner- auch die psychischen und sozialen Aspekte in zwei getrennten Achsen, sodass ein integratives Konzept erkennbar wird.
• Auslösung oder Verstärkung durch lokale Traumen, ope- Die physischen Beschwerden werden entsprechend der vor- handenen Symptome in drei Gruppen unterteilt und dabei die • parallel verlaufende affektive und kognitive Störungen 6 Ausgewählte Krankheitsbilder
Da andererseits bei diesen Patienten die psychische Kompo- Abgesehen von allen ätiologischen und pathogenetischen Un- nente der Erkrankung häufig im Vordergrund steht, stellt sich terschieden haben jedoch beide Krankheitsbilder eine Ge- auch das Problem der Abgrenzung zur somatoformen Schmerz- meinsamkeit: Sie können nur auf dem Boden eines bio- störung. Erschwert wird die Diagnosestellung vor allem dann, psycho-sozialen Krankheitsverständnisses und im Rahmen ei- wenn infolge umfangreicher invasiver Therapiemaßnahmen ner interdisziplinären Zusammenarbeit adäquat diagnostiziert eine Trigeminusneuropathie oder im Rahmen der Chronifizie- rung ein orofaziales Schmerz-Dysfunktionssyndrom entstan-den sind und im Sinne von Komorbiditäten diagnostisch undtherapeutisch abgegrenzt werden müssen. Das Risiko für Orofaziales Schmerz-
Chronifizierung und Therapieresistenz ist beim atypischen Dysfunktionssyndrom
Gesichtsschmerz höher als bei anderen chronischen Kiefer-und Gesichtsschmerzen.
Fallbeispiel
Ein 38-jähriger Mann wird wegen seit 7 Jahren bestehender Schwester von ihm als fürsorglich und aufopfernd charak- Schmerzen im Bereich des linken Oberkiefers mit Ausstrah- terisiert wird, beschreibt er die Mutter als streng und emo- lung in die Nase, den linken Halsbereich, das linke Auge so- tional distanziert. Der Vater wurde von ihm als „weich“ und wie Schläfe und Stirn linksseitig von der Zahnklinik in die „schwach“ erlebt. Diesem sei es wohl recht gelegen gekom- Schmerzambulanz überwiesen. Seine Schmerzen beschreibt men, dass er wegen der Kriegsbehinderung in der Verwal- er als permanent vorhandenes „eigenartiges Ziehen“ von tung tätig gewesen sei und nicht in der Landwirtschaft wechselnder Intensität. Die Vorgeschichte ergibt zahlreiche mitarbeiten musste. Wie erst im Rahmen der späteren Grup- diagnostische und therapeutische Interventionen bei ver- pentherapie deutlich werden kann, hat der Patient früh unter schiedenen HNO-Ärzten, Orthopäden, Kieferorthopäden und dieser Rollenaufteilung der Eltern gelitten: Er habe sich da- Zahnärzten, die keinerlei Erfolg brachten. Dabei wurden un- für geschämt, dass im Unterschied zu den Gleichaltrigen die ter anderem sämtliche Amalgamfüllungen unter der Vorstel- Mutter in der Männerrolle gewesen sei und der Vater hand- lung einer toxischen Genese der Symptomatik entfernt und werklich nichts zustande bringen konnte. Schon als kleiner durch Goldinlays ersetzt; auch mehrere Zähne wurden auf- Junge habe er deshalb Handwerker sein wollen. So sei er grund des starken Drängens des Patienten extrahiert. Allein mit einem Gleichaltrigen häufig zu verschiedenen Hand- eine Aufbissschiene, die in der Zahnklinik angepasst worden werksmeistern im Ort gegangen und habe dort mitarbeiten war, habe „eine ca. 25%ige Schmerzreduktion“ erbracht.
wollen, was von jenen meist nicht richtig ernst genommen Neben der Schmerzsymptomatik berichtet der Patient noch werden konnte. Meist sei er zurückgewiesen worden und von einem reduzierten Allgemeinbefinden, wobei Abge- habe sich dann noch mehr für sein Elternhaus geschämt. Als schlagenheit- und Schwindelgefühle im Vordergrund stün- Achtjähriger habe er ganz alleine die Garageneinfahrt des den, die zwischenzeitlich zu einer zunehmenden Leistungs- Elternhauses mit Platten ausgelegt, um gegenüber dem Dorf diesen „Schandfleck“ zu beheben.
Die Familienanamnese ergibt, dass der Vater vor 3 Jahren Auf diesem Hintergrund sei es ihm in der Kindheit und Jugend an den Folgen eines Herzinfarktes bei bereits bestehender – und im Grunde genommen bis heute – immer darum gegan- arterieller Verschlusskrankheit verstorben war. Der Vater gen, auf keinen Fall negativ aufzufallen. Jegliche aggressive war infolge einer Kriegsverletzung armamputiert und in der Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen, jeden Widerspruch Gemeindeverwaltung tätig gewesen. Die Mutter verstarb vor gegenüber Vorgesetzten hat er unterdrückt, war bemüht, nach 8 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls, ohne vorher Außen „das Gesicht zu wahren“. So übernimmt er dann auch ernsthaft krank gewesen zu sein. Die Ehefrau und die beiden nach Abschluss der Volksschule auf Drängen der Mutter die Kinder (14 und 9 Jahre) sind gesund, ebenso wie die 4 Jahre elterliche Landwirtschaft, obwohl er eigentlich eine Mechani- kerlehre absolvieren wollte. Als sich nach einigen Jahren je- Der Patient ist in der elterlichen Landwirtschaft aufgewach- doch abzeichnet, dass die Landwirtschaft zu klein ist, um sen. Infolge der Kriegsbehinderung des Vaters wurde diese genügend abzuwerfen, verpachtet er sie mit Einverständnis der von der Mutter betrieben. Da diese damit fast vollständig Mutter nach und nach und lässt sich zum Feinmechaniker um- ausgelastet war, übernahm die 4 Jahre ältere Schwester des schulen. Seit 10 Jahren ist er nun in einer Firma tätig, die sich Patienten weitgehend dessen Versorgung. Während diese in dieser Zeit immer mehr vergrößerte. In dieser gilt er als 6.6 Orofaziales Schmerz-Dysfunktionssyndrom und atypischer Gesichtsschmerz
Tüftler, der weitgehend eigenständig komplexe Probleme in wenn er einen Vorgesetzten im Betrieb an einem Ort trifft, der Konstruktion von Maschinen umsetzen kann. Obwohl er wo dieser den Eindruck haben könnte, dass er sich außerhalb weiß, dass er von den Vorgesetzten aufgrund seiner Fähigkei- der vorgesehenen Arbeitspausen in Richtung Kantine bewegt.
ten sehr geschätzt wird, kommt er wegen Kleinigkeiten immer In solchen und ähnlichen Situationen merkt er dann, dass er wieder in einen innerlichen Rechtfertigungszwang ihnen ge- unter eine verstärkte innere Anspannung gerät und sich dabei genüber. So meint er etwa eine Erklärung schuldig zu sein, auch die Gesichtsschmerzen verstärken.
tionen bei ausgedehntem Zahnverlust durch die fehlende ok-klusale Abstützung nicht genügend aufgefangen, sodass die Bruxismus (Zähneknirschen oder -pressen), der nachts oder
Kräfte direkt auf das Kiefergelenk einwirken und Funktions- (seltener) tagsüber auftritt, gehört bei 15– 60 % dieser Pati- störungen bewirken können (Gausch 1979). Auch Traumata
enten zu den klinischen Zeichen (Dworkin 1983; Ebersole sind als lokale Faktoren für das Beschwerdebild prägend. Die- u. Machado 1985; Demmel u. Lamprecht 1990). Nächtlicher se können auch durch zahnärztliche Behandlungen wie Fül- Bruxismus kann zu Schlafstörungen (Phase IV) und damit lungen, Kronen oder Prothesen mit funktionell nicht adä- zu einem fehlenden Erholungseffekt führen, wie dies auch quaten okklusalen Strukturen bedingt sein. Kieferfrakturen so- bei Patienten mit primärer Fibromyalgie (s. Kap. 6.14) be- wie verschiedene organische Grunderkrankungen (z. B. rheu- obachtet wurde. Auffallend ist auch die Gleichzeitigkeit von matoide Arthritis), angeborene Fehlanlagen, degenerative Muskelspasmen im Kiefer-Gesichts-Bereich und der Len- Veränderungen etc. können ebenfalls zu einem orofazialen denwirbelsäule, Halswirbelsäule oder Schulter-Arm-Region.
Schmerz-Dysfunktionssyndrom führen.
Während in der Allgemeinbevölkerung hinsichtlich des Auf- Experimentell konnte die Bedeutung zentralnervöser Fakto-
tretens kein Unterschied zwischen Männern und Frauen be- ren beim orofazialen Schmerz-Dysfunktionssyndrom belegt
obachtet werden konnte (Helkimo 1974; Lamprecht et. al.
werden. Mittels Elektrostimulation von Hypothalamus und 1986; Egle et al. 1999), scheinen Frauen wegen dieser Be- Mandelkernen konnten orale Hyperaktivität und Bruxismus schwerden sehr viel häufiger den Arzt oder die Klinik auf- ausgelöst werden (Graber 1978). In experimentellen Belas- suchen (Schwarz u. Cobin 1957; Franks 1967; Perry 1968; tungssituationen zeigten Patienten mit orofazialem Schmerz- Buttler 1970; Weinberg u. Lagerheller 1980; Reider et al.
Dysfunktionssyndrom im Elektromyogramm eine Zunahme 1983). Der Altersgipfel der Erkrankung liegt nach älterer Li- der Muskelaktivitäten, während diese bei Gesunden im Ver- teratur zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr (Schwarz u. Co- laufe des Versuchs rückläufig waren (Frame et al. 1973). Auch bin 1957; Franks 1967), muss aber heute eher nach oben Angst und Aggression führen bei diesen Patienten zu Mus- kelhyperaktivität und -anspannung (Cathomen-Rötheli et al.
Darüber hinaus muss unterschieden werden zwischen Patien- 1976; Heggendorn et al. 1979). Beim Vergleich verschiedener ten, die keinerlei somatische Anzeichen einer Erkrankung er- Muskelgruppen zeigte sich, dass Niveau und Zeitdauer der kennen lassen, solchen, die im Zahnbild eindeutige Zeichen Aktivität des M. masseter deutlich höher bzw. länger waren von Bruxismus (Reiben oder Pressen der Zähne aufeinander) als in anderen Muskelgruppen (Mm. temporalis, biceps und zeigen und Patienten, die zwar Bruxismuszeichen aufweisen, triceps) (Perry et al. 1960; Thomas et al.1973; Greene et al.
deren Schmerzbild aber nicht allein mit solchen Parafunktio- 1982; Heggendorn et al. 1998). Als äußere Belastungsfak-
toren, die bei dieser Patientengruppe zur Auslösung der
Schmerzsymptomatik führen, werden zu 30% Schwierigkei-
ten am Arbeitsplatz, zu 12% familiäre Probleme, zu 6% Ver-
Ätiologische und pathogenetische Faktoren
antwortlichkeit für kranke Angehörige sowie ebenfalls zu 6%finanzielle Probleme beschrieben (Helöe et al. 1977).
Der Verlust von Zähnen im Bereich der Stützzonen, ungenü- Spezifische Persönlichkeitsfaktoren können bei dieser Pati-
gender oder dislozierender Kontakt beim Schlussbiss, Früh- entengruppe nicht definiert werden. Allerdings werden Per- kontakte mit Seitabweichungen und Balancestörungen bei der sönlichkeitsmerkmale beschrieben, die auch immer wieder bei Unterkieferexkursion führen zu einer Verlagerung der Kon- anderen psychosomatischen Erkrankungen zu finden sind: dylen aus ihrer zentrischen Position (Gerber 1971; Gausch Hinter einem nach außen gezeigten verantwortungsvollen, ge- 1979). Als Folge dieser funktionellen Störungen kommt es schäftstüchtigen und angepasst-unauffälligen Verhalten zei- über neuromuskuläre Reflexmechanismen zu einem gestei-
gen sich die Patienten bei genauerer Betrachtung als gefühls- gertem Muskeltonus, der wiederum mit dem unter Stress an-
mäßig besonders kontrolliert, dabei vor allem aggressionsge- steigendem Muskeltonus kolludiert. Auch werden Muskelak- hemmt, kränkbar sowie ängstlich und unsicher. Dies führt zu 6 Ausgewählte Krankheitsbilder
Verleugnung jeglicher persönlicher Probleme (Lupton 1966; das durch das Auftreten belastender Lebensereignisse, die Pomp 1974; Cathomen-Rötheli et al. 1976; Staats et al. 1982; aufgrund unreifer Abwehrmechanismen nur unzureichend Demmel u. Lamprecht 1990). Diese Persönlichkeitsmerkmale bewältigt werden können, dann ausgelöst wird.
können als gering ausgeprägte Ich-Stärke bei gleichzeitigstark ausgeprägtem Über-Ich (Engel 1951; Moulton 1955;Gross u. Vacchiano 1973) oder auch als „retentive Charakter- Abbildung 6.6-1 fasst die beiden skizzierten pathogenetischen neurose“ (Fallschlüssel 1983) verstanden werden.
Mechanismen, den zentralen und den lokalen bzw. peripheren, Erklärt werden könnte dies aufgrund der Entwicklung dieser zusammen und zeigt gleichzeitig, wie sie im Sinne eines bio- Patienten in Kindheit und Jugend. Im Vergleich zu gesunden
psycho-sozialen Geschehens auch miteinander interagieren Kontrollgruppen werden eine größere Zahl an frühen Verlus- können und damit meist den Chronifizierungsprozess bedin- ten eines Elternteils durch Scheidung, Trennung oder Tod (Helöe et al. 1976; Egle et al. 1993), eine emotionale Depri- Psychodynamisch stehen abgewehrte aggressive Impulse im
vation trotz Anwesenheit beider Elternteile (Violon 1980) so- Vordergrund. Dabei müssen zwei Mechanismen unterschie- wie eine große erzieherische Strenge mit vielen Normen und den werden: Bei der überwiegenden Mehrheit der Patienten, Tabus (Fallschlüssel 1983; Demmel u. Neubauer 1988) sowie bei denen pathogenetisch zentrale Faktoren (vor allem Angst) der fehlenden Möglichkeit aggressiver Auseinandersetzungen im Vordergrund stehen, liegt der Mechanismus psychovege- (Fallschlüssel 1983; Egle u. Demmel 1991) beschrieben. Auf- tativer Spannungzustände zugrunde (s. Kap. 2.7).
grund dieser Entwicklung in Kindheit und Jugend verfügen Bei einer kleineren Subgruppe, bei der keine Muskelverspan- die Patienten bei der Bewältigung belastender Lebensereig- nungen nachweisbar sind, ist psychodynamisch eher vom Me- nisse nur über unreife Abwehrmechanismen (Egle et al.
chanismus der Konversion (Engel 1951) bzw. der somato- 1991a, b; Egle u. Nickel 1998), was dann bei ihrem Bemühen, formen Störung auszugehen. Auch hier sind zwar in engem sich nach außen als stark und unauffällig zu zeigen, aufgrund zeitlichem Zusammenhang psychische Belastungssituationen der engen zentralnervösen Verknüpfung des M. masseter mit vorhanden, doch können Wahl und Lokalisation aufgrund von dem limbischen System durch γ-Fasern (Laskin 1969; Yemm konflikthaften Wünschen und Vorstellungen oder einem 1985) zu Muskelverspannungen und – wahrscheinlich durch Kranhkeitsmodell in der eigenen Anamnese oder bei wichti- Ermüdung – letztlich zu Muskelschmerzen führt. gen Bezugspersonen erklärt werden. Darüber hinaus dient dasSymptom der Neutralisierung des zugrunde liegenden Konf- Die Entwicklung in Kindheit und Jugend kann insofern likts (Adler u. Hemmeler 1992). Es handelt sich dabei um ein als Prädisposition für ein psychogen verursachtes orofa- rein zentrales Phänomen, sodass Muskelverspannungen und ziales Schmerz-Dysfunktionssyndrom verstanden werden, Abb. 6.6-1: Pathogeneti-
sches Modell des orofazialen
Schmerz-Dysfunktionssyn-
droms. (nach Egle u. Demmel
1993).
6.6 Orofaziales Schmerz-Dysfunktionssyndrom und atypischer Gesichtsschmerz
Atypischer Gesichtsschmerz
Fallbeispiel
Ein 35-jähriger Patient litt zum Zeitpunkt der Erstkonsulta- reduktion, weshalb dann die Extraktion der Zähne vorge- tion bereits seit 5 Jahren an Dauerschmerzen im linken Oberkiefer. Diese wurden als dumpf und ziehend beschrie- Die klinische Untersuchung ergab außer einer iatrogen ent- ben mit einer Intensität von maximal 5 von 10 cm auf der standenen Fremdkörpereinlagerung im Bereich der Gingiva visuellen Analogskala. Begleitsymptome lagen nicht vor.
Regio 25 keine Auffälligkeiten im Bereich des linken Ober- Begonnen hatten die Schmerzen im Rahmen einer akuten kiefers. Insbesondere ließen sich keine neuropathischen Stö- apikalen Parodontitis des Zahnes 25. Nach primär konser- rungen nachweisen. Es bestand ein insgesamt erhöhter Mus- vativen Behandlungsversuchen erfolgte die Extraktion des keltonus im Kopf-, Nacken- und Schulterbereich. Die Pal- Zahnes. Zunächst trat eine kurzzeitige Besserung der Be- pation war nicht schmerzhaft, Triggerpunkte konnten nicht schwerden ein. Nach der Präparation der Nachbarzähne 26 und 27 für eine Brücke kam es erneut zum Auftreten von Die psychische Evaluation ergab eine schizoid getönte Per- Schmerzen und Verlagerung der Beschwerden auf diese sönlichkeitsstruktur sowie einen erheblichen Abhängigkeits- Zähne. Wiederum erfolgte primär eine konservativ endo- Autonomie-Konflikt und eine basale Selbstwertproblematik.
dontische Behandlung der beiden Molaren, die Wurzelspit- Im Rahmen einer beruflichen Umorientierung war es zu Pro- zenresektion schloss sich an. Eine nochmalige Revision des blemkonstellationen gekommen, die im zeitlichen Bezug zu Operationsgebietes führte ebenfalls nicht zu einer Schmerz- Ätiologie und pathogenetische Faktoren
Differenzialdiagnostische Überlegungen
Die hohe sensible Innervationsdichte im Kiefer- und Gesichts- Der atypische Gesichtsschmerz ist ein Schmerzbild, das sich
bereich sowie die emotional hohe Besetzung der orofazialen nicht in die bekannten Muster einer Neuralgie einordnen lässt.
Region müssen als prädisponierende Faktoren angesehen wer- Insofern ist die synonym verwendete Bezeichnung „atypische den. Sehr häufig ist ein Zusammenhang mit invasiven zahn- Gesichtsneuralgie“ falsch. Die Patienten klagen über Schmer- ärztlichen Behandlungsmaßnahmen vorhanden. Darüber hi- zen, die ständig da sind, nicht die Grenzen der Äste des N. tri- naus werden aber auch eine vaskuläre Pathogenese (Hampf genimus einhalten, oft auch beidseitig auftreten, mit Kopf- 1989) sowie Mechanismen vergleichbar der sympathischen schmerzen einhergehen und tageszeitlichen Schwankungen un- Reflexdystrophie diskutiert (Maier et al. 1989).
terliegen. Eine Schmerzauslösung im Sinne des Triggermecha-nismus der echten Neuralgien fehlt oder ist nicht eindeutigreproduzierbar. Verwirren kann eine weitgehende Überein- Psychodynamische Erklärungskonzepte
stimmung der geschilderten Symptome aufgrund von Projek-tion, familiärer oder medizinischer Vorerfahrung („Patienten- Die häufige Komorbidität psychischer Erkrankungen wie De- karriere“) mit bekannten somatischen Erkrankungen, die aber pression, Angst und Hypochondrie bei oft fehlendem lokalem letztendlich nie schlüssig bleibt. Diese Unstimmigkeit und die Befund führten zur Theorie eines Konversionsmechanismus bio-psycho-soziale Anamnese führen zur Diagnose.
(Engel 1951). Im engen zeitlichen Zusammenhang kommt es Das orofaziale Schmerz-Dysfunktionssyndrom ist differen-
zwar zu psychischen Belastungssituationen, doch Wahl des zialdiagnostisch vor allem von der Trigeminusneuralgie
Symptoms und Lokalisation können aufgrund von konflikt- (Tic douloureux) sowie dem vaskulären Gesichtsschmerz
haften Wünschen und Vorstellungen oder einem Krankheits- abzugrenzen. Meist kann schon durch eine genaue Symptom- modell aus der eigenen Anamnese oder bei wichtigen Bezugs- abklärung die Diagnose mit großer Sicherheit gestellt werden.
personen erklärt werden. Darüber hinaus dient das Symptom Im Unterschied zu Patienten mit Trigeminusneuralgie und der Neutralisierung des zugrunde liegenden Konfliktes (Adler vaskulärem Gesichtsschmerz schildern Patienten mit orofazi- u. Hemmeler 1992). Es handelt sich also um ein zentrales Phä- alem Schmerz-Dysfunktionssyndrom ihre Schmerzen als per- nomen, sodass Muskelverspannungen und Triggerpunkte feh- manent vorhanden und räumen äußerstenfalls eine wech- selnde Intensität ein. Während die Lokalisation beim vasku-lären Gesichtsschmerz ebenso wie bei der Trigeminusneural- 6 Ausgewählte Krankheitsbilder
gie fast immer einseitig ist (nur bei 3% aller Patienten mit Eine besondere diagnostische Schwierigkeit sind jene Patien- Trigeminusneuralgie tritt diese beidseits auf!), berichten Pa- ten, deren Schmerzbild und Anamnese zwar dem des atypi- tienten mit orofazialem Schmerz-Dysfunktionssyndrom häu- schen Gesichtsschmerzes entsprechen, deren Zahnbild aber figer von einer beidseitigen Lokalisation, vor allem wenn die deutliche Spuren von Bruxismus aufweist. Hier ist zu beden- Schmerzen schon längere Zeit andauern. Die Beidseitigkeit ken, dass die Mehrzahl aller Patienten im Laufe ihres Lebens ist allerdings selten symmetrisch, was sich aus der unter- vorübergehend mit den Zähnen knirscht, ohne ein orofaziales schiedlichen Belastung der orofazialen Strukturen ableiten Schmerz-Dysfunktionssyndrom zu entwickeln. Die Spuren lässt. Die Parafunktion (Bruxismus) ist fast immer seitenbe- dieser Lebensphasen bleiben sichtbar. Die klinische Funkti- tont, schon wegen der asymmetrischen Zahnfehlkontakte. Die onsanalyse allein kann aufzeigen, dass zwischen den Schliff- Patienten schildern ihre Schmerzen als brennend, dumpf und facetten und den geschilderten Schmerzen kein funktioneller häufiger ausstrahlend, während Patienten mit vaskulärem Ge- sichtsschmerz ihre Schmerzen eher als pochend bzw. klop- Die Abklärung der Entwicklung in Kindheit und Jugend setzt fend charakterisieren. Bei der Trigeminusneuralgie handelt es den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zum Patienten vo- sich um plötzlich einschießende, stromstoßartige Schmerzen, raus, da ansonsten diese Patienten im Rahmen ihrer ausge- die nur sehr kurz anhalten. Allerdings können auch Patienten prägten Neigung zur Verdrängung und Verleugnung von mit Trigeminusneuralgie von anhaltenden Schmerzen spre- Konflikten eher das Bild einer glücklichen Kindheit vermit- chen, wobei dann eine genaue Symptomabklärung deutlich teln. Wie jede andere diagnostische Untersuchung ist die macht, dass es sich dabei um eine Aneinanderreihung von Durchführung einer biographischen Anamnese speziell zu ler- Einzelepisoden handelt. Die Schmerzauslösung erfolgt durch nen, d. h. setzt spezielle Fertigkeiten der Gesprächsführung nichtschmerzhafte Stimuli, z. B. Kälte, Kaubewegungen, voraus (Adler und Hemmeler 1992). Diese Fertigkeit ist ins- während beim orofazialen Schmerz-Dysfunktionssyndrom besondere bei der Differenzialdiagnose zwischen atypischem ebenso wie beim vaskulären Gesichtsschmerz keine Trigge- Gesichtsschmerz und orofazialen Schmerz-Dysfunktionssyn- rung stattfindet. Als Begleitsymptome treten beim vaskulären Gesichtsschmerz häufig Gesichtsrötung, Tränenfluss und Neben der symptombezogenen und biographischen Anamnese Rhinitis auf, was weder bei der Trigenimusneuralgie noch ist die sorgfältige klinische Untersuchung von großer diffe- beim orofazialen Schmerz-Dysfunktionssyndrom zu beob- renzialdiagnostischer Bedeutung. Zum einen fühlt sich der Pa- tient so in seinen in der Regel körperlich empfundenen Be- Eine genaue biographische Anamnese erbringt, dass Patienten schwerden angenommen, zum anderen können hierdurch Ver- mit orofazialem Schmerz-Dysfunktionssyndrom früher häufig dachtsdiagnosen, die sich im Rahmen der Anamnese ergeben unter Bauchschmerzen, Kloßgefühl (Globus) und Atembe- haben, häufig direkt auf ihre Relevanz hin überprüft werden schwerden auch ohne körperliche Belastungen gelitten haben.
(s. Kap. 4.10). Dabei müssen auch sehr seltene zerebrale und Darüber hinaus zeigen sie ein Desinteresse an Sexualität. Die systemische Erkrankungen, die mit ähnlichen Beschwerdebil- Eltern-Kind-Beziehung war von einem legalistischen Erzie- dern einhergehen können, in Erwägung gezogen und entspre- hungsstil geprägt, d. h. bei Meinungsverschiedenheiten war chende fachärztliche Untersuchung veranlasst werden.
keine persönliche Auseinandersetzung möglich, Prügel undMisshandlungen seitens der Eltern sowie Scheidung bzw.
Trennung der Eltern in den ersten 7 Lebensjahren waren nicht Therapieempfehlungen
selten (Egle u. Demmel 1991; Egle u. Nickel 1998). DiesePatienten scheinen sehr selbstkritisch, opfern sich häufig für Orofaziales Schmerz-Dysfunktionssyndrom
andere auf, sind unfähig, ihren Ärger abzureagieren, fühlensich im sozialen Netzwerk missachtet sowie im Lebenskampf Vor Beginn jeglicher therapeutischen Intervention muss bei nicht durchsetzungsfähig (Lamprecht et al. 1986). Bei einer diesen Patienten eine intensive Aufklärung hinsichtlich der
Patientengruppe, die bei sonst störungsfreier Artikulation über Charakteristika des Krankheitsbildes vor allem vor dem Hin- die Front- bzw. Eckzähne knirschte, fiel eine starke Polarisie- tergrund eines bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnisses rung von Vater- und Mutterbild auf. Entweder war der Vater erfolgen. Thematisiert werden sollten dabei die Benignität, der alle Meinungen und Gefühlsäußerungen bestimmende und der wechselhafte Verlauf, die Symptomvielfalt und der mög- strafende Tyrann, und die Mutter war schwach, hilflos, keinen liche Symptomwechsel. Auch die psychischen Aspekte und Schutz bietend, eher beim Kind Schutz suchend, oder die Mut- ggf. aktuellen Belastungssituationen und die Zusammenhän- ter trat als Tyrann auf, und der Vater war der Versager. Der ge mit anderen körperlichen Beschwerden sind zu bespre- tyrannische Elternpart wird als extrem und unglaubwürdig chen. Die Anleitung zu einer zeitlich begrenzten Selbstbe- moralisierend erlebt. Leistungsforderungen waren stets groß, obachtung kann dazu dienen, Parafunktionen bewusst zu ma- Leistungsanerkennung blieb aus (Demmel u. Neubauer 1988).
chen oder überhaupt aufzudecken. Die Anleitung zur Selbst- 6.6 Orofaziales Schmerz-Dysfunktionssyndrom und atypischer Gesichtsschmerz
massage der Kaumuskeln, Mundöffnungsübungen oder phy- kin et al. 1994a) belegt worden. Dabei plädieren Marbach und sikalischen Eigentherapie (Kälte-/Wärmeapplikation) sind Dworkin für die Kombinationsbehandlung von Psychothera- geeignete symptomatische Therapiemaßnahmen zur Schmerz- pie und Antidepressiva. Zu berücksichtigen ist, dass Patienten linderung, die den Patienten außerdem mit aktiven Krank- mit orofazialem Schmerz-Dysfunktionssyndrom im Unter- heitsbewältigungsmechanismen vertraut machen (Dworkin u.
schied etwa zu Patienten mit chronischen Kopfschmerzen ei- ner psychotherapeutischen Behandlung skeptisch bis ab- Als zahnärztliche Therapiemaßnahme können Aufbissbehelfe
lehnend gegenüberstehen und es einer erheblichen Arbeit be- angefertigt werden. In der Regel handelt es sich dabei um ok- darf, sie für eine Psychotherapie zu motivieren. Nur wenn der klusale Stabilisierungsschienen aus Kunststoff, die zum einen behandelnde Zahnarzt oder Neurologe selbst von Beginn an durch Aktivierung von Reflexmechanismen zu einer Mus- ein bio-psycho-soziales Schmerzkonzept explizit und bei der kelentspannung, aber auch zu einer Entlastung der Kieferge- Durchführung der Diagnostik auch implizit gegenüber dem lenke führen sollen. Der therapeutische Nutzen setzt sich aus Patienten vertritt, kann dies gelingen. Am Verlauf der psy- einem spezifischen Plazebo- bzw. anderen unspezifischen Ef- chotherapeutischen Behandlung des bereits beschriebenen Pa- fekten zusammen (Greene et al. 1982). Der Erfolg scheint we- der von der Tragedauer noch der Herstellungsart abhängig zusein. Sowohl kurzzeitiges Tragen der Schiene während derzahnärztlichen Konsultation (Dao et al. 1994) als auch das Fortsetzung Fallbeispiel I
Tragen konfektionierter Bissblöcke (Huggins et al. 1998; Tru-elove et al. 1998) führten zu vergleichbaren Therapieerfolgen Im Rahmen einer analytisch orientierten Gruppentherapie wie das in der Regel empfohlene nächtliche Tragen der spe- für Schmerzpatienten (s. Kap. 5.11) verhält sich der Patient im ersten Jahr sehr zurückgezogen und beteiligt sich kaum Physiotherapeutische Therapiemaßnahmen und psychologi- am Gruppengeschehen. Nur wenn er von den anderen sche Entspannungstechniken können ebenfalls effektiv in das Gruppenteilnehmern aufgefordert oder vom Gruppenleiter Behandlungskonzept integriert werden (Turk et al. 1993b).
direkt angesprochen wird, äußert er sich – ohne jedoch über Die Pharmakotherapie sollte speziellen Indikationen vorbe-
sich selbst zu sprechen. Dabei erscheint er trotz eines recht halten bleiben und nur während eines überschaubaren Zeit- weiten Anfahrtsweges regelmäßig zu den Gruppensitzun- raumes erfolgen. Es stehen sowohl lokale als auch systemi- gen und wirkt auch innerlich beteiligt. Seitens des Grup- sche Regime zur Verfügung. Die gezielte Infiltration schmerz- pentherapeuten wird dies als Reinszenierung verstanden: hafter Muskelanteile oder Triggerpunkte mit Lokalanästhetika Der Patient bemüht sich, „das Gesicht zu wahren“, nicht bringt eine schnelle Schmerzreduktion in Akutphasen. Die negativ aufzufallen, gleichzeitig jedoch seine Lebenssitu- ganglionäre Opioidanalgesie (GLOA) am Ganglion cervicale ation nach außen abzuschotten. Als einige Gruppenmitglie- medius sollte nur eingesetzt werden, wenn die ersten Injekti- der am Ende des ersten Jahres der Therapie ihre Skepsis onen zu einer nachhaltigen Schmerzreduktion geführt haben.
hinsichtlich deren Wirksamkeit äußern, da ihre Schmerzen In welchem Umfang bei den Injektionstechniken Plazeboef- nach wie vor unverändert seien, schließt er sich diesen vor- fekte die echte Wirksamkeit überlagern, konnte bislang nicht sichtig an. Danach kommt es zweimal dazu, dass er kurz geklärt werden. Bei der systemischen Medikamentengabe vor der nächsten Gruppensitzung den Gruppenleiter anruft, werden in erster Linie nichtsteroidale Antiphlogistika und um die Beendigung der Therapie anzukündigen. Es stellt zentrale Muskelrelaxanzien im Rahmen einer probatorischen sich heraus, dass er sein Schweigen als Niederlage erlebt, Begleittherapie eingesetzt. Erstere sollten nur bei klinisch ma- gleichzeitig jedoch nicht glaubt, sich zur Besprechung sei- nifester Entzündung oder im Rahmen einer funktionellen ner persönlichen Schwierigkeiten vor der Gruppe überwin- Übungsbehandlung und letztere wegen der Gefahr der Abhän- den zu können. Das Verständnis des Gruppenleiters für gigkeit höchstens über einen Zeitraum von 3–4 Wochen ver- seine Zurückhaltung in diesen Telefongesprächen bei ordnet werden. Für den Einsatz von Antidepressiva, vor allem gleichzeitigem Insistieren auf die Fortsetzung der Therapie Amitriptylin, sprechen die Verbesserung des Nachtschlafes erlebt er – zumindest nach dem zweiten – als Unterstützung sowie analgetische Effekte. Eine spezifische Indikation be- und bringt sich verstärkt selbst ein. Wenig später berichtet er von Situationen, in denen er sich für seinen Sohn ein- Über die Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren
gesetzt hat, dem von Gleichaltrigen übel mitgespielt wor- liegen bisher die Ergebnisse nur einiger weniger Evaluations- den war. Auf diesem Hintergrund sind dann seine Wünsche studien vor. Für das orofaziale Schmerz-Dysfunktionssyn- an und seine Enttäuschungen über den Vater in der Gruppe drom sind sowohl die Wirksamkeit von Biofeedback (Olson zu bearbeiten. Er erkennt selbst, wie dies auch in seinem u. Mallow 1987; Flor 1990) als auch von psychodynamisch Verhalten gegenüber Vorgesetzten am Arbeitsplatz immer orientierter Kurztherapie (Marbach u. Dworkin 1975; Dwor- 6 Ausgewählte Krankheitsbilder
sche Kausaldenken vorherrschend als Ausdruck des „Nicht- wieder eine Rolle spielt. Daraus resultierend kommt es Loslassen-Könnens“. Die Auflösung dieses Widerstandes kann dann dazu, dass er Konflikte am Arbeitsplatz zunehmend am wirksamsten durch die Entwicklung von Körperbewusst- austrägt und schließlich auch seine seiner Funktion ent- sein und Körperempfinden eingeleitet werden. Durch Körper- sprechende Bezahlung gegenüber dem Arbeitgeber durch- therapien, wie z. B. funktionelle Entspannungstherapie (Fuchs setzen kann. In dem Maße, wie der Patient seine Bedürf- 1984) oder Atemtherapie (Middendorf 1984) bekommen diese nisse sehen, seine aggressiven Anteile akzeptieren kann Patienten zunächst überhaupt einmal einen Eindruck über das und nicht immer „sein Gesicht zu wahren“ bemüht ist, Ausmaß der muskulären Verspannungen. Durch deren Wahr- kommt es zu einer Veränderung in der Gesichtsschmerz- nehmung besteht auch die Chance, die psychischen Äquiva- symptomatik: Immer häufiger berichtet er von längeren lente der Verspannung wieder von der somatischen auf die symptomfreien Intervallen, die er vor der Therapie nicht psychische Ebene zu heben (Desomatisierung).
kannte. Am Ende der Therapie beschreibt er die situativimmer wieder auftretenden Gesichtsschmerzen als einenIndikator für Kränkung und Wut, die er in einer bestimmten Atypischer Gesichtsschmerz
Situation sich nicht zugestehen konnte.
In erster Linie müssen interdisziplinäre Therapiekonzepte
Der therapeutische Weg setzt eine Einordnung des Einzelnen angestrebt werden. Deren wesentliche Pfeiler sind die analy- in die psychosozialen Zusammenhänge voraus und zielt auf tische Psychotherapie und Pharmakotherapie.
eine Verbesserung des Körpergefühls sowie der Balance unddamit eine Normalisierung des Muskeltonus und Entlastung Die Aufgabe des Zahnarztes beschränkt sich im Allgemei- vom Schmerz. Bei Patienten, bei denen eine Verspannung der nen auf die sorgfältige Diagnostik und Verhinderung wei- Gesichtsmuskulatur belegbar ist, erscheint bei der meist ein- terer nichtindizierter, vor allem invasiver Behandlungen, getretenen Chronifizierung die Kombination eines psychody-
dies in erster Linie vor dem Hintergrund der Chronifizie- namisch orientierten Psychotherapieverfahrens mit einem
rung und möglicher iatrogener Schädigungen.
körperorientierten Verfahren als Therapie der Wahl. The-
rapeutisch werden für alle Bruxismusformen bisher Aufbiss-
Durch den hohen Erwartungsdruck der Patienten und dem aus- schienen, Bissführungsplatten oder Biofeedback empfohlen.
gesprochen drängenden und fordernden Verhalten bezüglich Auf dem Hintergrund unserer Überlegungen zur Genese des weiterer lokaler Therapiemaßnahmen ist das Risiko für ver- orofazialen Schmerz-Dysfunktionssyndroms sind dies jedoch stümmelnde und neurodestruktive Eingriffe sehr hoch. Diese keine kausalen Therapien. Sie versuchen, dem Patienten zu müssen nach heutigem Wissensstand jedoch als Kunstfehler beweisen, dass er wiederum etwas falsch macht. Als autoritäre Verordnung wollen sie den Patienten veranlassen, sich „rich- Die Pharmakotherapie entspricht im Wesentlichen der neuro- tig“ zu verhalten. Sie wollen ihn zur Rückkehr zur vorgege- pathischer Schmerzen, weist jedoch nur eine begrenzte Wirk- benen Norm bewegen, da er nur ohne Leiden leben könne, samkeit auf (30–50%). Amitriptylin wird als Mittel der ersten wenn er diesen Anweisungen folgt. Der zugrunde liegende Wahl eingesetzt. In Einzelfällen ist auch mit Carbamazepin Konflikt mit Umwelt und Selbst wird verkannt. Weitere The- oder Baclofen eine Schmerzreduktion zu erzielen. In jedem rapieempfehlungen sind häufig autogenes Training oder kran- Fall ist eine Erfolgs- und Therapiekontrolle notwendig, da kengymnastische Übungen. Symptomverschiebungen, unter auch das Risiko für die Entwicklung einer Abhängigkeit bei Umständen aus dem Fachgebiet des Zahnarztes hinaus, kön- nen eventuell Therapieerfolge vortäuschen.
Nach lokaler Opiodanalgesie am Ganglion cervicale superius Unter allen Umständen ist der Entwicklung der Angst vor ei- muss nach guter initialer Ansprechquote (75%) bei ca. der ner ungewissen, bedrohlichen Krankheit entgegenzuwirken, Hälfte der Patienten mit einem Rezidiv gerechnet werden die durch Zahnverlust und Gesichtsschmerz Selbstwert und (Maier 1996), sodass sie nur als ergänzendes Therapieverfah- soziale Beziehungen zerstört. Der Teufelskreis der Angst vor ren indiziert ist. Entsprechend ist der Stellenwert der Sympa- dem Versagen darf nicht in Gang gehalten werden. Diese Pa- thikusblockade, die nur beim Vorliegen gleichzeitiger autono- tienten brauchen in der Regel psychotherapeutische Hilfe. Wir stellen aber immer wieder eine starke somatische Fixierung Durchaus erfolgreich können TENS-Behandlung (transkutane fest: Kann im Laufe eines explorativen Gespräches eine ge- elektrische Nervenstimulation) sowie Entspannungsverfahren wisse Einsicht in die psychischen Zusammenhänge gewonnen ergänzend bei gleichzeitig bestehenden Muskelbeschwerden werden, so ist oft schon in der nächsten Sitzung rein somati-

Source: http://www.demmel-berlin.de/pdf/pub_wiss_egle.pdf

Nutrition facts and ingredient lists for taste of gourmet products

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